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Erzählungen vom Tuchofen
„So stillstehend ruhig auch das Leben dieser Leute erscheint, so ist es dennoch ein wahrhaftes, lebendiges Leben. Die steinalte, zitternde Frau, die, dem großen Schranke gegenüber, hinterm Ofen saß, mag dort schon ein Vierteljahrhundert lang gesessen haben, und ihr Denken und Fühlen ist gewiss innig verwachsen mit allen Ecken dieses Ofens und allen Schnitzeleien dieses Schrankes.“ Heinrich Heine, Die Harzreise
Seit Anbeginn der Menschheit und über die längste Zeit hinweg wurde in jedem Haus ein Feuer wachgehalten. Und die Größe einer Gemeinschaft wurde an der Zahl ihrer Feuerstellen bestimmt. Diese Feuer wurden in Öfen behütet und gebändigt. Sie wurden oft reich verziert, man war sich der lebenssichernden Bedeutung ihrer Wärme bewusst. In der heutigen Zeit sind die meisten Heizsysteme unsichtbar, die Feuerstellen sind ausgelagert.
Öfen geben der Wärmequelle eine Gestalt. Sie sind Gefäß für das Feuer, und auch wenn man es nicht sieht, man spürt es brennen und hört es, wenn es in den Öfen rauscht.
In den kalten Monaten des Jahres bildete der Ofen den warmen Lebensmittelpunkt im Haus. Bei ihm versammelten sich die Bewohner am Ende des Arbeitstages, sie lehnten sich an, wärmten sich. Man sprach in Ruhe miteinander und wurde es dunkel, so erzählte man sich im Schein des Feuers Geschichten.
Diese Geschichten wurden über Generationen hinweg immer wieder weitererzählt in der Nähe des warmen Ofens. So blieben sie fast wie in ihn eingeschrieben und er wurde so etwas wie der Ort des lokalen Gedächtnisses.
„Die alte Frau, dem großen Schranke gegenüber, hinterm Ofen, trug einen geblümten Rock von verschollenem Zeuge, das Brautkleid ihrer seligen Mutter. Ihr Urenkel, ein als Bergmann gekleideter, blonder, blitzäugiger Knabe, saß zu ihren Füßen und zählte die Blumen ihres Rockes, und sie mag ihm von diesem Rocke wohl schon viele Geschichten erzählt haben, viele ernsthafte, hübsche Geschichten, die der Junge gewiß nicht so bald vergißt, die ihm noch oft vorschweben werden, wenn er bald, als ein erwachsener Mann, in den nächtlichen Stollen der „Karolina“ einsam arbeitet, und die er vielleicht wiedererzählt, wenn die liebe Großmutter längst tot ist und er selber, ein silberhaariger, erloschener Greis, im Kreise seiner Enkel sitzt, dem großen Schranke gegenüber, hinterm Ofen.“ Heinrich Heine
Nicht nur Ort mündlicher Überlieferung ist der Ofen, auch neue Geschichten und Märchen entstanden dort: Aus der engen Verbundenheit des Menschen mit dem vertrauten Platz am Ofen… „…durch das tiefe Anschauungsleben am immer gleichen Orte, der immer gleichen Gegenstände, entwickelten sich die Märchen, deren Eigentümlichkeit darin besteht, dass nicht nur die Tiere und Pflanzen, sondern auch ganz leblos scheinende Gegenstände sprechen und handeln.“ Heinrich Heine, Die Harzreise
Und mitten im Wirbel dieser phantastischen Bilder stand der Ofen und auch ihm wurden Märchen, Sagen und Sprichwörter erdacht. Man sagte, er sei durch den Kamin mit dem guten Geist verbunden. In Nächten auf Feiertage bestreuten die Leute die Ofenbank mit Asche, denn sie wollten die Spuren der verstorbenen Angehörigen finden, sie glaubten, sie kämen in jenen Nächten, um sich am Ofen zu wärmen. Die Heimeligkeit der wohligen Wärme wechselte sich ab mit der Unheimlichkeit, die sich einschlich bei solchen Vorstellungen. Sie vertrauten sich dem Ofen an, sie klagten ihm ihr Leid oder gaben ihm Geheimnisse preis, als könne er zuhören, als sei er ein lebendiges Wesen – er der Ofen, der Erbe des alten Feuerkults, von Geheimnissen umwoben.
„Und Schrank und Ofen leben, denn ein Mensch hat ihnen einen Teil seiner Seele eingeflößt.“ Heinrich Heine, Die Harzreise
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Gehüllt in fein bemalte Draperien, in einer langen Reihe oben an den Pfeilern, umrunden die Figuren der Heiligen den Binnenchor des Kölner Doms.
Ihre Körper wiegen sich in den wertvollen Stoffen. Die zart gemusterten Mäntel verhüllen Schultern, Arme, Oberkörper, Beine, Füße. Sie bilden das kostbare Fundament für die auf ihnen ruhenden Köpfe und für die Hände, die die Attribute halten.
Egal wie farbenprächtig und exquisit die Stoffe sind, sie treten in den Hintergrund und verwenden ihre ganze Pracht dazu, das, was sie verwahren, zu preisen.
Der Körper gibt seine Form an das Kleid ab, dort wo der Stoff auf den Schultern liegt und nach unten zieht. Unten öffnet er sich, fällt und spielt sein freies Spiel, unbemerkt von den ruhigen Händen und den friedvollen Gesichtern.
Die Stofffalten umspielen die Beine, lösen ihre Form auf. So nehmen sie der Figur den soliden Stand und lassen sie den geschwungenen Falten entlang nach oben streben. Und wären nicht die Spitzen ruhender Füße zwischen den sanft aufliegenden Falten zu sehen, so erschiene uns die Figur schwebend, ohne Gewicht.
Die flüchtigen Stofffalten, die bei jeder kleinsten Regung des Körpers, und sei es nur ein Atemzug, ihr Zusammenspiel und ihre Gestalt ändern, sind einem festen Material eingraviert. So fließend und weich das Tuch, das die Apostel des Kölner Doms umhüllt, auch wirkt, es ist starr und kann nicht aufgehoben werden.
Aus der griechischen Antike ist uns die Geschichte vom Wettstreit der Künstler Zeuxis und Parrhasios bekannt. Sie wollen sich an den Malkünsten des anderen messen und so malt Zeuxis Weintrauben, die so wirklichkeitsgetreu gelingen, dass die Vögel herbei fliegen und versuchen die Weintrauben abzupicken. Parrhasios präsentiert einen gemalten Schleier und als Zeuxis ihn auffordert, den Schleier zu lüften, er wolle nun das Bild sehen, ist klar, das Parrhasios den Wettstreit gewonnen hat, konnte Zeuxis doch nur die Vögel täuschen, Parrhasios jedoch den berühmten Maler Zeuxis selbst.
Die Geschichte erzählt von Zeuxis‘ irrtümlichen Wunsch, hinter das abgebildete Tuch zu sehen. Doch ist eine Enthüllung unmöglich und so bleibt die Sehnsucht, über das zusehen Gegebene hinaus auf etwas Dahinterliegendes blicken zu können.
Von einem anderen Maler der Antike, von Timanthes, wird erzählt, dass er sich vornahm, beim Bild „die Opferung der Iphigenie in Aulis“ den Ausdruck von Trauer in den Gesichtern der Angehörigen von Person zu Person gesteigert darzustellen. Als er sich außerstande fühlt, ein noch traurigeres Gesicht zu malen als das vorherige, entscheidet er, das Gesicht des untröstlichen Vaters der Iphigenie, Agamemnon, mit einem Schleier bedeckt abzubilden. Der Schleier steht hier für etwas, das man nicht mehr darstellen kann, weder mit Worten, noch mit Bildern. Er ermöglicht das Undarstellbare dennoch im Bild präsent zu halten.
Tücher verhüllen. Sie bedecken immer etwas und machen das Verhüllte zu einem Geheimnis.
Doch geht man aus der Welt der Museen und Kathedralen, aus der Welt der Bilder und Geschichten wieder zurück nach Hause und zündet das Feuer im Ofen an, und legt sich, bis das Feuer an Kraft gewinnt, eine Decke um, so fällt einem das Einfachste wieder ein, dass Tücher wärmen.
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